INTERVIEW BOSCH
Demo buchen15. November 2021
"3.000 Bosch-Beschäftigte haben mentales Training durchlaufen"
Sie haben bei Bosch das Thema "mental health" fest in ihre Weiterbildungsprogramme für Führungskräfte und Beschäftigte etabliert. Wie kam es dazu?
Petra Martin: Ich habe vor etwa zehn Jahren den Auftrag erhalten, ein Führungskräfteprogramm zu entwickeln, das unsere Führungskräfte noch besser in die Lage versetzt, Bosch in die Zukunft zu führen. Es war klar, dass wir noch stärker in eine Transformation gehen werden und dass dieser Prozess vor allem über die Führungskräfte laufen sollte. Ich sollte mir Gedanken machen: Was können wir mit guter Führung mehr erreichen? Und mir fehlte neben den theoretischen Inhalten noch so ein linking pin vom Kennen zum Können. Ich dachte, es wäre gut, einen ergänzenden Aspekt einzubringen, der stark aufs Erleben geht und das Thema Ganzheitlichkeit berücksichtigt. Dann habe ich in Manager Seminare einen Artikel gelesen, der beschrieben hat, wie mindfulness ins Business integrierbar und messbar ist. Und das hat mich überzeugt.
Was war der nächste Schritt?
Wir haben dann 2012 mit handverlesenen 15 Top-Leuten angefangen, in einem Führungkräftetraining mindfulness zu trainieren, mit der Idee, das Ganze später groß auszurollen. Diese kleine Auswahl von Leuten war erst einmal überrascht, hat sich aber gut darauf eingelassen und danach rückgemeldet: Wow, das war jetzt aber wirklich mal was anderes!
Wir haben unser Programm später auch qualitativ erforscht und viele Befragungen gemacht und bekamen immer die Rückmeldung von den Führungskräften, das sei das interessanteste Thema im Programm überhaupt gewesen. Inzwischen haben bei uns etwa 2500 Führungskräfte das Programm durchlaufen. Mindfulness ist bei uns total etabliert. Nicht jede Führungskraft praktiziert, aber alle haben Berührung gehabt und ein Verständnis entwickelt.
Heute bieten Sie auch anderen Beschäftigten Achtsamkeitstraining an.
Über das Thema mindful leadership schaffen wir einen sehr kraftvollen Zugang zu dem Thema, weil das Training nicht ein „Weg vom Stress" vermittelt, sondern eher ein „Hin zu“: hin zu mehr Fokus und mehr Gelassenheit. Deswegen war es für uns sehr passend, das Trainingsprogramm in den Führungskräfteschulungen anzusiedeln. Aber letztendlich kam die Frage aus der Belegschaft: Wieso bietet ihr das nur den Führungskräften an? Wir wollen das auch machen. Und dann war klar, dass wir das Konzept erweitern müssen.
Und das machen Sie jetzt mit der Mindance-App?
Genau, das neue Programm, das wir 2019 entwickelt und mit einer kleinen Gruppe pilotiert haben, haben inzwischen 1000 Leute mitgemacht. Gerade in der Coronazeit war das eine hilfreiche Runde für viele Teilnehmer:innen, so wurde es immer wieder rückgemeldet. Das gemeinsame Meditieren und der vertrauensvolle Austausch haben vielen in der Krise sehr geholfen. Jetzt stehen wir gerade kurz vor dem Start der nächsten Runde, und ich gehe davon aus, dass etwa 200 weitere Mitarbeiter:innen mitmachen werden.
Mentales Training muss man über einen gewissen Zeitraum verfolgen, damit es Wirkung zeigt. Wie halten Sie Ihre Führungskräfte und Mitarbeiter:innen bei der Stange?
Mit unserem neuen Programm Mindfriends, das wir quasi für jedermann und jederfrau entwickelt haben, ist das relativ leicht, weil es tatsächlich über zehn Wochen läuft. Wir haben es außerdem mit der Methode working out loud verknüpft: Als Teilnehmer:in hat man seine body group, das heißt, wir matchen Leute, die gut zusammenpassen oder an einem Standort arbeiten. Diese Gruppe bekommt von uns ein work book (das wir selbst geschrieben haben) und die Mindance-App an die Hand.
Wir haben tatsächlich eine sehr gute „Durchkommer-Quote“ von über 80 Prozent. In der Coronazeit lag diese Quote sogar noch höher, weil das Bedürfnis der Menschen nach mehr me time und mentaler Stärke – man kann dafür bestimmt auch andere Begriffe wählen – gestiegen ist. Viele Menschen merken einfach: Es tut mir gut, wenn ich mich mehr um mein Innenleben kümmere und es schaffe, das Chaos im Kopf mal zu beruhigen. Unser Leben ist viel schneller und anstrengender geworden. Es ist einfach gut, etwas an der Hand zu haben, das ich aktiv einsetzen kann, um meinen Geist zu beruhigen.
Was muss man tun, damit die Führungskräfte und Mitarbeiter:innen das Angebot des mentalen Trainings nicht als zusätzliches to do in einem ohnehin überladenen Alltag missverstehen?
Das ist eine Geschichte, die sich jede und jeder selbst erzählt. Ich glaube, da geht es eher darum, klarzumachen: Ihr macht das freiwillig und für euch! Mit Optimierung hat das wenig zu tun. Natürlich kann man mentales Training zur Optimierung nutzen, aber das ist nicht der Hintergrund bei Bosch. Jeder und jede muss für sich entscheiden, warum er oder sie das tut.
Ich zum Beispiel hatte vor vielen Jahren starke Rückenprobleme. Ein Therapeut sagte mir, ich müsse jetzt etwas weglassen, es sei zu viel. In meiner Welt war Weglassen gar keine Option. Aber ich habe gedacht: „Du nimmst jetzt was dazu“. Nämlich Meditation und Yoga. Diese Entscheidung war so viel wert für mich, dass der kleine Zeitinvest für die Übungen unterm Strich total egal war.
Sie glauben also, dass die Entscheidung, zusätzlich noch etwas zu tun, neue Ressourcen freisetzt?
Das will ich nicht verallgemeinern, glaube aber, dass es viele gibt, die struggeln, weil sie glauben, keine Zeit zu haben. Ich kenne Führungskräfte bei uns im Unternehmen, die operativ total eingebunden sind. Das heißt, sie haben kaum Möglichkeiten, ihren eigenen Arbeitsablauf zu gestalten. Die sind fast Getriebene.
Und trotzdem machen sie noch zusätzliche Dinge, weil sie einfach Energie daraus ziehen. Sie halten z. B. einen Vortrag, obwohl sie objektiv betrachtet gar keine Zeit dafür haben. Aber sie haben erkannt: Was ich an Energie daraus ziehe, zahlt auf meine tägliche Arbeit so gut ein! Jeder muss für sich entscheiden: Mache ich das freiwillig und vertraue ich darauf, dass jede Minute, die ich da investiere, viel, viel mehr wert ist?
Ist das Verständnis dafür, dass mentales Training ein starkes Werkzeug der Selbstfürsorge ist, in den Unternehmen schon angekommen?
Ich glaube, Führungskräfte verstehen inzwischen sehr gut, dass sie, um gesund und leistungsfähig zu sein, Sport treiben und sich bewegen sollten. Und es reift auch immer mehr die Überzeugung, dass auch ein gesunder Geist dazugehört.
Ein Beispiel: Wir sitzen jeden Tag viele Stunden vor der Kamera unseres Rechners in Online-Meetings. Wir können in dieser Zeit tausend Dinge tun: Mails checken, im Internet surfen. Die Verführung ist groß. Aber uns ganz bewusst zu entscheiden: Ich lasse mich jetzt nicht verführen, nur weil ich Langeweile habe! Genau dafür brauche ich die Fähigkeit, meinen Geist zu beobachten und dieses reflexhafte Verhalten besser zu kontrollieren. Erst dann kann ich eine bewusste Entscheidung treffen: Okay, ich habe eine Deadline. Ich kann mir dieses Meeting nicht voll anhören, ich muss nebenbei E-Mails bearbeiten oder dazu eine Ansage machen.
Wenn ich leistungsfähig sein will, muss ich auch eine Art Psychohygiene für mich etablieren. Wie kriege ich Ruhe in meinen Geist rein? Wie kann ich sicherstellen, dass ich fokussiert und gleichzeitig offen bleibe?
Wie wichtig ist Achtsamkeit und mentales Training für die Zusammenarbeit in den Teams?
Bosch ist ein Technikunternehmen. Wir sind sehr abhängig von Innovation und stehen vor sehr großen Herausforderungen, auch als Gesellschaft. Denken Sie nur an den Klimawandel. Wir brauchen neue Technologien. Wenn alle Leute nur noch im Zwei-Minuten-Rhythmus zwischen Websites herumspringen, kommt da nichts bei rum. Mentales Training hilft mir dabei, meinen Geist wieder so auszurichten, dass ich in die Tiefe gehen kann. Das ist total wichtig.
Wir sprechen darüber, dass die Zukunft der Arbeit in der Zusammenarbeit liegt, also in der „radikalen Kollaboration“. Dann brauchen wir auch hier neue Zugänge: Inwieweit bin ich denn überhaupt in der Lage, Dinge anzusprechen, die mir nicht gefallen? Oder: Was sind denn so meine hot buttons, wo ich gar nicht mehr gut zuhöre oder in die Luft gehe? Echte Zusammenarbeit braucht sehr viel mindfulness.
In unserem Trainingsprogramm werden solche Themen Schritt für Schritt über zehn Wochen bearbeitet, und das Ganze wird immer begleitet durch Meditation. Und Mindance hat für jeden Strang und für jede Woche passgenaue Meditationen aufgesetzt. Das heißt, Sie werden in diesem Strang über die Meditation immer tiefer geführt. Das ist schon etwas Besonderes.
Haben Sie ausgewertet, wie sich das Thema mindful leadership ausgewirkt hat auf die teilnehmenden Führungskräfte, aber auch auf andere Akteur:innen bei Bosch, also z. B. die Mitarbeiter:innen in den Team?
Als wir angefangen haben mit unserem Leadership-Programm, haben wir vorher und nachher tatsächlich sehr umfangreiche Befragungen gemacht. Wir haben geschaut, wie sich die Führungskräfte verändern. Das Ergebnis war zu erwarten, aber auch ein bisschen desillusionierend. Die Führungskräfte selbst schätzten ihren eigenen Lern- und Verhaltensfortschritt extrem hoch ein. Die Führungskräfte der Führungskräfte bewerteten die Veränderung als moderat. Am wenigsten Veränderung spürten die Mitarbeiter:innen laut diesen Befragungen.
Im ersten Moment war ich ein bisschen traurig, weil ich dachte: Da muss doch mehr sein! Wir haben die Leute ja begleitet und gesehen, welche teilweise sehr berührenden Erkenntnisse in den Seminaren stattfanden. Das war wirklich bemerkenswert.
Und dann irgendwann dachte ich: Okay, sie sind keine anderen Menschen geworden. Sie denken über manche Dinge anders. Und zum anderen ist das Führungsverhalten, das wir von unseren Führungskräften erwarten, eine Veränderung, die nicht unbedingt jedem Mitarbeiter und jeder Mitarbeiterin gefällt. Nämlich viel mehr lassen als tun, also eher einen Rahmen zu bauen, als zu sagen: Ich entscheide jetzt für dich und ich mach das schon für dich. Lassen bedeutet eben, bei bestimmten Themen nicht einzuschreiten, sondern die Verantwortung dort zu lassen, wo sie ist: beim Mitarbeitenden. Das gefällt nicht unbedingt jedem im Team.
Sind das auch die gesünderen und die glücklicheren Führungskräfte?
Zurzeit gibt es eine starke Überlagerung von Themen: die Coronakrise, die Automobilkrise, jetzt die Zuliefererkrise. Es gibt Führungskräfte, die sind im operativen Bereich sehr stark davon betroffen. Die sind, was das Risiko von Überlastung angeht, schon teilweise im tiefdunkelroten Bereich. Und manche sagen mir: Also Petra, wenn ich Achtsamkeit und Meditation nicht gelernt hätte, dann würde ich vielleicht schon gar nicht mehr leben. Das ist ein O-Ton!
Mindfulness ist für sie einfach eine Möglichkeit, aus diesem großen Stress bewusst mal auszusteigen, und wenn es nur bedeutet, dass man sich mal für zehn Minuten zurückzieht und Ruhe in den Kopf bekommt. In diesen zehn Minuten kann sich etwas Distanz entwickeln.
Wir haben außerdem Interviews geführt mit Führungskräften im Rahmen einer Masterarbeit. Es kam immer wieder heraus, dass das Bewusstsein von Überlastung deutlich höher ist. Sie merken viel früher: Oh, jetzt wird es zu viel. Jetzt muss ich eine Pause machen.
Ob sie glücklicher und gesünder sind? Auf alle Fälle scheint es so, dass sie zufriedener und vielleicht selbstbestimmter sind und ein besseres Bewusstsein über das haben, was Körper und Geist brauchen.
Glauben Sie, dass diese Führungskräfte auch eine bessere Vorbildwirkung auf ihre Mitarbeiter:innen haben? Welchen Eindruck haben Sie persönlich?
Ganz spannend finde ich eine Veränderung in der Kommunikation, die ich hier an unserem Standort in Salzgitter wahrnehme. Hier arbeiten einige der Führungskräfte in der Produktion, und ich kenne den rauen Ton dort. Dieser Ton ist ja nicht böse gemeint, aber früher war es schon eher so: Der Meister brüllt in die Mannschaft hinein, und dann musste es laufen.
Da bemerke ich eine Veränderung: Wenn ich jetzt mit Meistern zu tun habe, die sich auf einmal vorstellen, wie dieser Ton bei ihrem Gegenüber ankommt, und die sich Gedanken machen: Wo steht der andere eigentlich, wenn ich das jetzt so mache? Die nehmen also ganz bewusst einen Perspektivwechsel vor und verstehen: Okay, ich stehe einem Menschen gegenüber, und der tickt auf eine bestimmte Art und Weise. Wie schaffe ich das jetzt, ihn zu überzeugen? Und da habe ich immer wieder Erlebnisse gehabt, wo ich dachte: Wow, das finde ich richtig toll.
Natürlich liegt der Fokus der ganzen Thematik mindfulness stark im Wissensbereich und gar nicht so sehr in der Produktion. Aber auch dort habe ich oft diese positiven Beobachtungen gemacht. Was ich auch wahrnehme, ist, dass Menschen bei uns, die unter starkem Druck stehen, eher gelassen bleiben. Die können in Sitzungen auch mal was wegschlucken, ohne gleich in die Luft zu gehen. Oder sie eskalieren ganz gezielt, weil sie für sich entschieden haben: Jetzt muss es eine klare Ansage sein!
Ist mindfulness das Zukunftsthema der Führung?
Ich glaube, die Wahrnehmung dafür, dass Menschen wichtig sind, hat sich stark verändert. Wir sind ein Technikkonzern, in dem Innovation wahnsinnig wichtig ist, in dem viele Menschen ihre Heimat haben, die Prozesse und Strukturen attraktiv finden. Doch das, worum es in Zukunft geht, werden wir nur hinkriegen, wenn wir es mit den Menschen machen. Das können wir nicht über Strukturen, neue Kästchen oder neue Prozesse regeln. Wir müssen es mit den Menschen machen. Ich glaube, das Bewusstsein dafür ist bei ganz vielen inzwischen gewachsen.
Das zweite ist das Thema Beziehung. Führung oder Leadership braucht wirklich Beziehung! Ich als Führungskraft kann nur führen, wenn meine Leute sich für mich entscheiden. Das tun sie nur, wenn wir eine Beziehung zueinander haben. Und diese Beziehung entsteht dadurch, dass ich mich für diese Menschen interessiere.
Zwei große Mitarbeiterbefragungen, die wir innerhalb der gesamten Bosch-Gruppe durchgeführt haben (400.000 Menschen wurden befragt), zeigten ganz deutlich: Die Führungskräfte unseres Geschäftsbereichs, die unser leadership training durchlaufen hatten, erhielten die besten Zustimmungen von den Mitarbeiter:innen.
Diese Führungskräfte sind einfach geübter im Reflektieren, viele haben mindfulness wahrscheinlich auch beibehalten. Vielleicht kann man sagen, es sind reifere Führungskräfte. Das Verhalten, das wir uns von Führungskräften wünschen, ist bei vielen dieser Leuten spürbar.